Tantra Wissen

Was ist Neotantra?

Neotantra bezeichnet eine moderne Form des Tantra, die sich in Anlehnung an die ursprüngliche tantrische Tradition aus Indien entwickelt hat und heute vor allem in Europa, den USA und Australien praktiziert wird. Die alten Texte des klassischen Tantra sind in Sanskrit verfasst und stammen aus den Veden – den heiligen Schriften Indiens. Mit diesen Ursprungsquellen hat das heutige Neotantra jedoch nur noch wenig gemeinsam. Zwar werden gelegentlich einzelne Begriffe oder Zitate übernommen, doch lebt das traditionelle Tantra eher in Symbolen fort: So steht Yoni im Sanskrit für den weiblichen Schoß, Lingam für das männliche Genital. Auch die Begriffe Shiva (das Männliche) und Shakti (das Weibliche) finden sich häufig als archetypische Prinzipien im Neotantra wieder.

Wie ist Neotantra entstanden?

Neotantra basiert auf den Wurzeln des indischen Tantra, stellt aber eine bewusste westliche Weiterentwicklung dar. Es wurde maßgeblich von der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung der 1968er-Bewegung beeinflusst. Diese Generation war auf der Suche nach Ganzheit, Spiritualität, Sinnlichkeit und gelebter Körperlichkeit. Das westliche Menschenbild, das stark durch Rationalität und Funktionalität geprägt war, reichte ihnen nicht mehr aus. Sie sehnte sich nach emotionaler Tiefe, Verbindung und spiritueller Sinnsuche.

Indien wurde dabei als Ort der inneren Wahrheit und Ganzheit imaginiert – eine Sichtweise, die tief in der westlichen Literatur verwurzelt ist. In Goethes West-östlicher Divan (1819) etwa wird der Orient als Raum der Menschlichkeit, Achtsamkeit und erotischen Freiheit idealisiert. Hermann Hesse knüpfte in Siddhartha (1922) und Der Steppenwolf(1927) an diese Vorstellungen an. Seine Protagonisten begeben sich auf spirituelle Reisen, die zur Selbstfindung und inneren Reife führen. In A Passage to India (1924) von E. M. Forster wird Indien hingegen konfliktreicher dargestellt – als Kulisse für ein kulturelles Missverständnis zwischen Ost und West, das durch persönliche und gesellschaftliche Grenzerfahrungen ausgelöst wird.

Vor diesem kulturell-literarischen Hintergrund machten sich viele junge Menschen in den 1970er-Jahren tatsächlich auf den Weg nach Indien – auf der Suche nach einer tieferen spirituellen Wahrheit und einem neuen Lebensgefühl, das später im Neotantra Ausdruck fand.

Vom Ursprung zum Westen: Die Entwicklung des Neotantra

Einige indische Lehrer öffneten ihre Ashrams für diese Sinnsucher aus dem Westen. Besonders prägend war der charismatische Lehrer Osho (auch bekannt als Bhagwan Shree Rajneesh). In seinem Ashram in Pune entwickelte er neue Meditationstechniken und Vorträge, inspiriert von der alten tantrischen Lehre, aber neu interpretiert für eine westlich geprägte Zuhörerschaft. Sein Ansatz war körperlich, radikal und transformierend – und wurde zur Grundlage für viele spätere Neotantra-Strömungen.

Als viele der westlichen Schüler nach Jahren aus Indien zurückkehrten, brachten sie Oshos Lehren und ihre eigenen Erfahrungen mit. In Workshops, Retreats und Seminaren wurde diese transformierte Praxis weitergegeben – der Beginn des westlichen Neotantra.

Neotantra heute: Vielfältig, achtsam, lebendig

Im heutigen Neotantra, oft schlicht als „Tantra“ bezeichnet, gibt es keine starre dogmatische Struktur. Die Praxis lebt von kontinuierlicher Weiterentwicklung und persönlicher Erfahrung. Heutige Anbieter von Tantra-Kursen integrieren neue Wege, um Liebe, Sinn und Verbindung zu erforschen – stets mit Fokus auf Achtsamkeit, Körperbewusstsein und Präsenz.

Die älteste Neotantra-Schule Berlins ist das Diamond Lotus Tantra, gegründet von Andro, in dem sogenanntes „rotes Tantra“ – also eine sexuell orientierte Praxis – vermittelt wird. In Paris machte Margot Anand Tantra populär. Ihr Ansatz betont die Ekstase, Verschmelzung und spirituelle Ganzheit durch Sexualität.

In den USA prägte Diana Richardson das Neotantra entscheidend: achtsam, langsam, körperzentriert. Ihre Bücher öffnen den Raum für eine Sexualität, die nicht auf Höhepunkte, sondern auf Verbindung zielt – auf Langsamkeit als Heilung. Sie spricht die Sprache der Präsenz, der bewussten Berührung, des Fühlens.

Fazit: Neotantra als moderner spiritueller Weg

Neotantra ist kein Rückgriff auf alte Texte, sondern ein lebendiger, westlich geprägter Weg, um Spiritualität und Körperlichkeit im Hier und Jetzt zu verbinden. Es ist ein Spiegel unserer Zeit – und eine Einladung, wieder ganz Mensch zu sein. Zwischen innerer Wahrheit, körperlicher Präsenz und spiritueller Erfahrung bietet Neotantra einen Raum für achtsame, heilsame und sinnliche Begegnung.