Die Erfindung der geistigen Liebe

Urchristentum und die Liebe zu Jesus

Jesus als besserer Liebhaber – am Anfang war die Enthaltsamkeit  

Das frühe Christentum verbreitete sich durch meist jüdische, römische und griechische Frauen, die zu Christinnen wurden. Die Hinwendung solcher Frauen zur Lehre Jesu Christi vollzog sich, wie heute in den apokryphen Evangelien und Apostelakten nachzulesen ist, nach einem fast typischen Schema: Sie hörten die Predigten der Apostel, bekannten sich dann selbst zum Geist Gottes, ließen sich taufen und brachen mit alten Rollenmodellen. Und das hieß konkret, dass sie ihren Ehepflichten entsagten und ihre Ehemänner verließen und fortan enthaltsam (enkreteia) leben wollten. So taten es etwa Thekla, die Paulus begegnete, sich ihm anschloss und sich dann selbst einen Namen als Apostolin machte, oder Drusiana, die ihren Mann Andronikus verließ und ihn später zum Christentum bekehrte, oder Mygdonia, eine Angehörige der Oberschicht. Die Frühchristinnen, so weiß man heute, haben sich besonders stark für die geistige Liebe eingesetzt, dass eben Mann und Frau auch Freunde sind in Liebe und nicht nur Ehegatten für die Fortpflanzung. 

Mygdonia zum Beispiel wollte die neue Lehre hören und ließ sich auf einer Sänfte von ihren Sklaven zum öffentlich Platz tragen, auf dem Thomas predigte. Thomas sprach zunächst aber nicht zu ihr, sondern zu ihren Dienern und Dienerinnen. Er sagte, dass alle Menschen vor Gott gleich seien und sie sich nicht minderwertig fühlen sollten; erst dann wandte er sich Mygdonia zu und erklärte ihr das Prinzip des lebendigen Gottes, der in ihr als geistige Liebe wohnen werde. Daraufhin bekannte sich Mygdonia zu Jesus Christus. Wieder zurück zuhause verweigerte sie das übliche Eheritual mit ihrem Mann Charis. Sie wies ihn schroff mit den Worten zurück: „Hinfort hast du keinen Platz bei mir, denn mein Herr Jesus, der mit mir ist und in mir ruht, ist besser als du.“ Jesus war also nun ihr neuer Bräutigam, was Charis verständlicherweise nicht sehr erfreute, weshalb er Thomas als niederträchtigen Zauberer anprangerte, der Menschen verführe. Mygdonia allerdings verließ nicht ihren Weg und empfing von Thomas die Taufe. Dass sie fortan ein geistliches Leben führte, hieß, dass sie sexuell enthaltsam lebte. Asketisch war.

Warum aber war es anscheinend das prägnanteste Merkmal der Frühchristinnen enthaltsam zu leben? Warum kassierte der christliche Gott die Sexualität ein? Die Antwort ist in der christlichen Lehre selbst begründet: Zentral ist hierbei die Inkarnation, die Idee und der Glaube, dass der göttliche Geist im Fleisch sein kann und zwar nicht nur symbolisch, sondern wirklich physisch empfunden, Fleisch geworden. Man könnte sich diesen Geist als Licht vorstellen, oder auch von Lust sprechen, wobei diese nicht als obszön anzusehen war, sondern als lustvoll im geistlichen Sinne. Üblich unter frühen Christen war es, sich intensiv zu Küssen, um diese Verbrüderung bzw. Verschwesterung anzuzeigen, sich zu umarmen und zu berühren. Es ging eben nicht primär um die Fortpflanzung.

Der Glaube an das Wirken des Geistes wurde sehr radikal umgesetzt und vielfach in überlieferten Ereignissen, wie Zungenrede, Prophetie und Wundertaten für bewiesen erklärt. Es herrschte eine Aufbruchsstimmung, die heute nicht leicht nachvollziehbar ist. Die Lehre Jesu Christi, dass der Geist Gottes die neue Liebe ist, ersetzte somit den Ehemann, die Fortpflanzung und die Rolle als Ehefrau und Mutter, was in folgendem Bekenntnis Mygdonias gegenüber Thomas deutlich wird: „In Wahrheit habe ich mein Herr den Samen deiner Worte empfangen und werde Früchte hervorbringen, die solchem Samen gleichen.“ (vgl. Thomasakten, Apostelgeschichten des 2. und 3. Jahrhunderts) Mygdonia will sich nicht durch Kinder, sondern christliche Taten und geistliche Lehre fortpflanzen. Sie und viele andere begründeten mit ihrer sexuellen Askese und das heißt, der Verneinung der Fortpflanzung, eine Kultur des Wirkens des Geistes in der Materie. Und das muss ganz wörtlich verstanden werden: der Geist Gottes wurde körperlich empfunden, so dass die Asketinnen mit Leichtigkeit auf höhere Ideale zielten. Inwiefern Sexualität als Geistigkeit, Küssen etc. erlaubt war, wäre noch zu erforschen. Die frühen Christinnen und Christen ließen an und in ihrem Körper nur noch den göttlichen Geist wirken. Und wer sagt denn, dass das nicht sehr erotisch sein kann.