Absichtslos Raum halten
Um in unseren persönlichen Prozessen wachsen zu können, brauchen wir Platz. So wie auch Pflanzen Raum brauchen, damit ihre Äste und Blätter sprießen können. Im tantrischen Raum bieten wir jedem diesen Raum des Wachstums an.
Im Tantra sprechen wir davon, dass die Teamleitung der Tantra-Gruppe den Raum für jeden einzelnen und insgesamt hält. Damit ist gemeint, dass die Seminarleitung und auch die Assistent/innen beobachten, dass es jedem gut geht und sie da sind, wenn jemand Unterstützung braucht.
Kommen in einer tantrischen Übung, etwa einer Tantra-Massage, einer Gesprächsrunde oder einer Tanz- oder Kontaktübung zwei Menschen zusammen, dann halten auch diese den Raum füreinander. In diesem herrscht Absichtslosigkeit. Das heißt, keiner verfolgt, egoistische Ziele, etwa den schnellen Sex oder die zielgerichtete Befriedigung der eigenen Lust. Der Orgasmus ist nicht das primäre Ziel. Sondern in der tantrischen Übung wird jede Person Kanal für die allgegenwärtige Liebe und nimmt die Haltung des gleichzeitigen absichtslosen Gebens und Nehmens als Dienen ein. Das Wesen und die körperlichen und seelischen Bedürfnisse des anderen werden in den Fokus gestellt. Dem Gegenüber wird Raum gegeben, ganz bei sich anzukommen und alles zuzulassen, was sich zeigen darf – es dürfen auch Tränen fließen. Alles, was dem Heilungsprozess dient, ist willkommen. Ihr könnt euch auch hierbei an die Assistent/innen oder die Seminarleitung wenden.
In der Literatur gibt es ein ganz prominentes und eindrückliches Beispiel für ein solches Raumhalten. In dem kurzen Text „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ beschreibt Heinrich von Kleist im Jahre 1805, wie er durch die Assistenz seiner Schwester eigene Gedanken entwickelt und neue Lösungen findet. Er schreibt, wie er etwa in seinem Büro sitze und über Akten brüte, aber den richtigen Gesichtspunkt, wie eine Sache nun zu beurteilen sei, auch nach langem Grübeln nicht finden könne. So wende er sich an seine Schwester, die ebenfalls am Arbeitstisch säße, um mit ihr über die Angelegenheit zu sprechen. Ziel sei es beim Darüber-reden nicht, dass die Schwester ihm das richtige Vorgehen oder die Lösung sage. Vielmehr gehe es darum, dass sie einfach da sei, ihm ihre Aufmerksamkeit schenke, behutsam Anteil nehme. Und plötzlich würde sich die Erkenntnis wie ein Ideenblitz in ihm ausbreiten, ganz von selbst, ohne Anstrengung. Kleist nutzte die liebevolle Präsenz seiner Schwester, der er vertrauen konnte, um in ihrem Gesicht, in ihrem gesamten körperlichen Ausdruck, ihren Reaktionen, wie in einen Spiegel schauen zu können. Er wartet ab, dass sich seine Worte zum Sachverhalt ein Echo evozieren, das den Ideenblitz in ihm auslöste.
Übertragen auf tantrische Übungen, halten wir füreinander den Raum als Ort der Liebe oder Heilung, in dem wir einfach füreinander da sind, und sich das zeigen darf, was gerade da ist. Jede/r wird quasi zur/m Geburtshelfer/in für den nächsten Schritt des anderen. Raumhalten ist wie eine Bühne, auf der alles erscheint, um sich neu zu mischen, zu verbinden und Erkenntnisse auf dem Weg aufzuzeigen. Tantra lehrt eine Bewusstheit und Offenheit für solche Prozess des Kanal-haltens zu entwickeln.
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